"Deine Scham möchte geliebt werden.”- Mein Impulsvortrag in München am 23.05.2024

“Schieb den Wal zurück ins Meer”- Meine Reise durch die Stationen der Scham

Impulsvortrag bei der “Dein Körper ist genug”- Finissage am 24.Mai 2024 in München

Als ich 15 war hielt ich einen Vortrag im Biologieunterricht. Es war in einem dieser Beton80er- Jahre Bauten, dunkel, unwohlig und ohne ohnehin war Biologie ein Ort der Scham, weil ich einfach so vieles nicht verstehen konnte. Ich stand da also mit meinen 15 Jahren, unsicher, ängstlich, wütend und sah wie getuschelt wurde und ein Zettel in der Klasse rumging. In der nächsten Stunde hatten wir Physik, Schamstufe hoch2, denn hier verstand ich noch weniger. Dann bekam ich in den Zettel in die Hand „Schieb den Wal zurück ins Meer“. Der Wal war ich. Ein dicker schwerer Wal.

Ich verließ das Zimmer, ging auf den Hof, weinte, war fassungslos, geschockt, beschämt und wäre am Liebsten im Erdboden verschwunden.

Das ist das erste, was ich über die Scham verstanden habe:

Egal was der Auslöser der Scham ist: Es geht immer darum, gar nicht mehr existieren zu dürfen.

Ich hasste mich und meinen Körper. Zu dieser Zeit war meine Mama schwerkrank. Wir wussten sie würde sterben, auch, wenn niemand darüber sprach. Ich schämte mich dafür, mich so zerbrochen zu fühlen, so viel Schwere und Angst ausgeliefert zu sein.

Darum hasste ich auch das Leben. Ich wäre so gerne nicht mehr da gewesen.

Das ist das zweite, was ich über die Scham gelernt habe: Sie geht immer noch einmal tiefer.

Wenn ich mich für meinen Körper schäme und das habe ich 15 Jahre lang getan und gefühlt mit jedem Raum, den ich betreten habe, ging es an der Oberfläche um meine „Figur“, doch letztendlich ging es darum mich so völlig falsch und unverstanden zu fühlen als Mensch.

Ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin! So viele Menschen, Männer und Frauen erzählen mir,, dass sie wegen ihrem Körper nicht zum Schwimmen, nicht zum Sport gehen möchten, nicht nackt sein möchten und Sex im Hellen nicht erlaubt ist, möchte ich weinen. Weil all das so schön ist! Weil all das doch lebendiges Leben ist.

Das ist das dritte, was ich über die Scham gelernt habe: Nichts tötet unsere Leidenschaft, unsere Liebesfähigkeit, unsere Schönheit und Kreativität schneller ab als die Scham.

Wenn die Scham uns erwischt, verliert alles Lebendige an Leben.

Eine ganze Industrie lebt von unserer Scham. Tut alles dafür, um uns zu beschämen.

„Du darfst nicht alt werden.“, „Du darfst nicht dick werden- und wehe du bist es schon.“, „Du darfst nicht anders aussehen und falls du es doch tust, tu alles dafür, um es möglichst zu verstecken.“

Es werden Milliarden gemacht mit unserer Scham.

Deswegen ist dieses Projekt “Dein Körper ist genug” so unendlich wichtig. Weil es neue Bilder schafft. Jedes Mal, wenn ich ein neues Bild sehe, von einem Menschen, der einfach schön ist als Teil der Natur und nicht als dieser idealisierte Teil, wird ein Teil in mir weich.

Das vierte, was ich über die Scham gelernt habe, ist: Beschämte Menschen beschämen Menschen. Die Teenies, die damals diesen Zettel rumgehen haben lassen, waren selbst verunsichert, verloren und nicht bei sich.

Menschen, die sich selbst verbunden sind, die sich selbst genug sind, können auch andere genug sein lassen.

Und das ist das Letzte, was ich dir über Scham wieder geben möchten: Scham möchte geliebt werden. Das ist die einzige, die allereinzigste Methode, die wirklich hilft.

Scham heilt im Kontakt. Heilt im Kontakt mit uns, in uns und heilt im Kontakt mit anderen.

Deswegen möchte ich euch zu einer kleinen Übung einladen (die kannst du auch gleich Zuhause bei dir oder mit deinen Freund:innen anwenden):

Wendet euch der Person links neben euch zu. Schaut euch in die Augen. Die Person mit den längeren Haaren fängt an. „Ich sehe deine Scham.“ Und atmen und anschauen.

Dann sage zu deinem Gegenüber „Ich sehe deine Scham.“ Haltet diesen Moment zusammen.

Und atmet. Dann sage zu deinem Gegenüber “Ich sehe deine Schönheit.” … und lasst auch das einen. Das kann noch viel Schwieriger sein.

Was ich dir noch mitgeben möchte:

Das nächster Mal, wenn du dieses Gefühl von Scham spürst, gib ihm das nächstes Mal einen Moment einen Raum in dir, atme hinein- und dann lebe dein Leben.

Mit Haut Haar. Mit deinem ganzen wundervollen Körper, jeder einzigen Zelle.

Weil dein Körper ist genug.

Du bist genug.

Du hast es verdient, dich lebendig zu fühlen.

Danke!

Deine Susanne

Susanne Hartl